Piergiorgio Odifreddi

Come stanno le cose. Il mio Lucrezio, la mia Venere.
Rizzoli, Milano, 2013, ca. 310 Seiten; ISBN 978-88-17-06600-6, 20,00 Euro

Im Jahre 2011 machte ein Buch von Stephen Greenblatt, Professor an der Harvard Universität, Furore; sein Titel: The Swerve . How the World Became Modern, es beschäftigte sich mit der spektakulären Wiederauffindung des Manuskripts von „De Rerum Natura“ von Lukrez  (Titus Lucretius Carus; geboren vermutlich zwischen 99 und 94 v. Chr.; gestorben vermutlich um 55 oder 53 v. Chr.), im Deutschen unter dem Titel „Über die Natur der Dinge“ bekannt. Das Buch von Lukrez steht in der Tradition der griechischen Rationalisten um Epikur, es erklärt die Welt aus der Sicht des Atomismus und war wohl bis in die Spätantike bekannt, schien aber dann unwiederbringlich verloren. Es ist in zweierlei Hinsicht interessant, nämlich einmal wegen seines revolutionären Inhalts, dann auch wegen seiner Wirkungsgeschichte in der frühen Neuzeit. Der revolutionäre Inhalt lässt sich grob so zusammenfassen, dass Lukrez alles auf Atome zurückgeführt, die sich in vielfältiger Weise kombinieren und rekombinieren lassen, was insbesondere impliziert, dass es keine steuernde Gottheit geben muss, die die Welt aus dem Nichts geschaffen hat. Wenn man bedenkt, dass Lukrez im ersten vorchristlichen Jahrhundert geschrieben und sich in spekulativer Weise auf die Lehren des Epikur gestützt hat, so ist das eine schier unglaubliche Theorie.   Sie wird in drei Schritten ausgearbeitet,  vom Mikrokosmos schrittweise zum Makrokosmos fortschreitend. Eine schon etwas ältere deutsche Übersetzung findet sich in einer zweisprachigen Fassung bei Reclam, in diesem Jahr ist eine schöne neue Übersetzung von Klaus Binder bei Galiani erschienenen. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass der cicuit Herrn Binder am 20. Oktober 2015 zu einer Vorstellung seiner Lukrez-Übersetzung eingeladen hat.

Der Text gilt als einer der auslösenden Faktoren der Renaissance. Das liegt auch an der ziemlich interessanten Geschichte seiner Auffindung: der italienische Humanist Poggio Bracciolini fand dieses Buch im Winter 1417 im Rahmen seiner systematischen Suche nach antiken Manuskripten in einem deutschen Kloster (welches Kloster das war, ist nicht bekannt), und bewirkte dann, auch durch seine Stellung im Netzwerk der italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts, dass der Text seine Wirkung entfalten konnte. Diese Geschichte wird spannend in dem eingangs erwähnten Buch von Greenblatt geschildert. Es sei angemerkt, dass Poggio Bracciolini auch in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts seine Spuren hinterlassen hat, Conrad Ferdinand Meyer hat ihm seine unterhaltsame Novelle „Plautus im Nonnenkloster“ gewidmet.

Der italienische Wissenschaftsschriftsteller Piergiorgio Odifreddi, der durch populärwissenschaftliche Bücher zur Mathematik bekannt geworden ist und sich dabei gelegentlich auch vor Konflikten mit der katholischen Kirche nicht abschrecken lässt (vor einigen Jahren wurde sein Briefwechsel mit Papst Benedikt XVI publiziert), hat nun ein Buch vorgelegt, in dem er sich mit dem Text von Lukrez befaßt. Dies geschieht vor allem in einer wissenschaftsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Text, und Odifreddi zeigt, wie sich Spuren des Werks von Lukrez in den Werken wichtiger Wissenschaftler, vor allem Naturwissenschaftler, niedergeschlagen haben und finden lassen. Die Vorgehensweise ist eng am Text orientiert: Odifreddi geht  linear durch den Text (er hat seine eigene Übersetzung aus dem Lateinischen, wie er schreibt) und er fügt bei wichtigen Passagen Kommentare zum Werk ein, wann immer sich ein geeigneter Anknüpfungspunkt zu geeigneten Arbeiten bekannter Wissenschaftler findet. Das ist ein ziemlicher und beeindruckender Ritt durch die Geschichte der Naturwissenschaften; man lernt viel über das Zustandekommen naturwissenschaftlicher Theorien, man lernt auch, wie sich Theorien gegen etablierte Meinungen durchsetzen mussten (schließlich bietet der Text von Lukrez eine außerordentlich unorthodoxe Meinung, die auch erst durchgesetzt werden musste). Die Diskussion wird eingeleitet durch eine Diskussion der Wirkungsgeschichte vor allem in literarischer Hinsicht, einige der wichtigen italienischen Schriftsteller bis hin zu I. Calvino werden daraufhin befragt, ob sich Spuren in ihrem Werk finden lassen. Gelegentlich, so scheint mir, wird der Bogen ein wenig überspannt: So stellt Odifreddi die erste (Tractatus-) Philosophie von Ludwig Wittgenstein in den Kontext von Lukrez, indem er die bekannten Sätze „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ und „Worüber man nicht sprechen kann, muss man schweigen“ als einen dreifachen Atomismus (der Welt, der Gedanke, und der Sprache) interpretiert. Es gibt noch andere Diskussionen, bei denen man nicht unbedingt die Meinung des Verfassers teilen muß, aber das macht alles nichts: das Buch bietet eine außerordentlich interessante Lektüre, es ist gut ausgestattet und überaus geeignet als gelehrte Begleitlektüre zum Originaltext, als vergnügliche, instruktive und weit gespannte Ergänzung.

E.-E. Doberkat

 Bei  W. W. Norton, New York. Erschienen auf Deutsch unter dem Titel Die Wende. Wie die Renaissance begann. Siedler-Verlag, Berlin, 2012 (übersetzt von Klaus Binder)

 Lukrez, De rerum natura, Welt aus Atomen. Lateinisch/Deutsch übersetzt und herausgegeben von Karl Büchner. Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1973 (Reclams Universal Bibliothek  4257)

 Lukrez, Über die Natur der Dinge. Neu übersetzt und kommentiert von Klaus Binder, Vorwort von Stephen Greenblatt. Galiani, Berlin, 2015